Die Polyvagal-Theorie als Basis für eine integrierende nachhaltig wirkende Therapie
Die Anfänge der Forschung zu der Polyvagal-Theorie liegen 30 Jahre zurück.
Stephen W. Porges forschte dazu, wie das Autonome Nervensystem mentale, emotionale, verhaltensbeeinflussende und physiologische Prozesse beeinflusst. Klinisch interessierte er sich vornehmlich im prä- und postnatalen Bereich und der Geburtshilfe und in diesem Bereich vornehmlich der Überwachung gesundheitlicher Risiken während der Geburt und der ersten Lebenstage.
Im Gegensatz zu der bisherigen Annahme, dass das ANS (Autonomes Nervensystem) sich in den Sympathikus (aktivierender Teil) und den Parasympathikus (entspannender Teil) aufteilt, fand Porges unter der Messung der Herzratenvariabilität von Neugeborenen heraus, dass sich der Parasympathische Teil der ANS in zwei Stränge des Nervus Vagus aufteilt: in den dorsalen (hinteren) Ast und den ventralen (vorderen) Ast.
Damit beschreibt die Polyvagal-Theorie eine vollkommen neue Sicht auf das Autonome Nervensystem.
Drei Organisationsprinzipien bilden das Zentrum der Polyvagal-Theorie:
Die Reakions-Hierachie
Das ANS reagiert auf Empfindungen im Körper und Signale aus der Umwelt und nutzt dabei drei Reaktionspfade. Diese werden in einer bestimmten Reihenfolge aktiviert und reagieren auf Herausforderungen vorhersehbar. Die drei Pfade und Reaktionsmuster sind- in der Reihenfolge ihrer Entwicklung vom ältesten bis zum neuesten – der dorsale Vagus (der Immobilität einleitet), das sympathische Nervensystem (SNS-das mobilisierend wirkt) und der ventrale Vagus (der soziale Aktivitäten fördernt und verbindend wirkt).
Neurozeption:
Diesen Begriff prägte Dr. Porges für die Reaktionen des ANS auf Signale für Sicherheit, Gefahr und Lebensgefahr, die aus dem Körper und aus der Umgebung stammen und durch unsere Kontakte in der Umgebung hervorgerufen werden. Anders als bei der Perzeption (Wahrnehmung) handelt es sich bei der Neurozeption um ein „Erkennen ohne Gewahrsein“, heißt es handelt sich um weitgehend unbewusstes Erleben und Einschätzen der Situation.
Co-Regulation:
Die Polyvagal-Theorie versteht Co-Regulation als einen biologischen Imperativ: als ein Bedürfnis, das zwingend erfüllt werden muss, um das Leben zu erhalten. Aufgrund dieser immer neu eingeschätzten Umgebung und des immer neu reagierenden ANS fühlen wir uns sicher genug, um uns auf Verbundenheit einzulassen und sichere Beziehungen aufzubauen.
Also ein immer weiter lernendes System.
Das Autonome Nervensystem (ANS)
Es kann als die Grundlage unseres Erlebens verstanden werden. Diese biologische Ressource ist die neuronale Plattform, die allem was wir erleben, zugrunde liegt. Wie wir uns durch die Welt bewegen – ganz gleich, ob wir zuweilen Kontakt suchen oder uns in anderen Fällen isolieren -, wird vom ANS gesteuert. Unterstützt durch co-regulierte Beziehungen, entwickeln wir Resilienz. Alle Erlebnisse, ob Fehleinstimmung oder harmonisch, unser ANS lernt beständig und stimmt dann immer feiner unsere Reaktionsmöglichkeiten ab.
Das wichtigste Funktionsprinzip des ANS lautet: „Jede Reaktion ist eine Handlung im Dienst des Überlebens“, ganz gleich wie unpassend eine Handlung von außen wirken mag, aus autonomer Perspektive ist sie immer eine adaptive überlebenssichernde Reaktion. Das ANS urteilt nicht über Gut und Böse, es versucht nur Gefahren einzudämmen und Sicherheit zu suchen.
Das ANS beeinflusst die Funktion der inneren Organe, wie etwa Atmung, Herzschlag oder Verdauung und Hormonausschüttung und wie wir heute wissen auch unsere emotionale Befindlichkeiten und somit unser Verhalten.
Lange Zeit meinte man auf das ANS keine Einflussmöglichkeiten zu haben. Neuere Forschungen zeigen, dass dem nicht so ist. Wie wir auf das ANS wirken können, wird unten beschrieben.
Das SES Social-Engagement-System: Ventraler Vagus
Ziel der therapeutischen Begleitung von Menschen ist, die Ressourcen des ventralen Vagus zu aktivieren und durch co-Regulation die prosozialen Verhaltensweisen für die soziale Verbundenheit zu stärken. Dieses ist die Gesicht-Herz-Verbindung, die auf der Beziehung zwischen dem ventralen Vagus (Herz) und den gestreiften Muskeln unseres Gesichts und des Kopfes basiert. Sie steuert, wie wir hören, den Ausdruck unserer Mimik und wie wir sprechen (Vokalisierung). Wir suchen soziale Sicherheit mit Hilfe dieses Systems für soziale Verbundenheit.
Sympatikotoner Zustand
Wird eine Situation als bedrohlich eingeschätzt, aktiviert das ANS den Kampf-oder Fluchtmodus.
Dorsaler Zustand
Erscheint eine Situation als lebensgefährlich und Kampf/Flucht nicht möglich, bewirkt das ANS über den dorsalen Vagus eine Erstarrung.
Entwicklungsgeschichtlich sind die zwei Äste des Vagusnervs zu unterschiedlichen Zeiten entstanden. Der dorsale Ast ist weitaus älter zu vergleichen mit unseren Überlebensfähigkeiten über das Stammhirn (Reptilien- Gehirn).
In Gefahrensituationen läuft die Reaktion kaskadenförmig ab. Wenn jüngeres Verhalten (ventraler Vagus) nicht greift, oder gelernte Erfahrungen dagegensprechen, wird auf das nächstältere Verhaltensmuster umgeschaltet.
Vagusbremse
Der ventrale Vagus beeinflusst die Herzfrequenz, so dass sie beim Ausatmen verlangsamt und beim Einatmen beschleunigt ist. Diese natürlichen Schwankungen werden Respiratorische Sinus-Arrhythmie RSA genannt. Mithilfe der RSA kann der Tonus des Vagus gemessen werden, der Aufschluss über das physiologische, soziale und psychische Wohlbefinden gibt.
Eine Aufgabe des ventralen Vagus ist die Stabilisierung der Herzfrequenz bei ca 72 Schlägen/min.
Der Vagusnerv reguliert den internen Schrittmacher des Herzens, den Sinusknoten. Ohne diese Stabilisierung schlüge das Herz gefährlich schnell. Als Bild kann man sich eine Fahrradbremse vorstellen: Löst man die Bremse, wird man schneller, betätigt man sie wird man langsamer. So verhält es sich bei der Vagusbremse: Lösen wir sie, kann sehr schnell Energie freigesetzt werden, tritt sie wieder in Aktion, kehren wir in den Ruhestand zurück. Durch die Wirkung auf das Herz (über den Sinusknoten) ermöglicht die Vagusbremse unserem System flexibel zu reagieren. Ist die Flexibilität gegeben haben wir eine hohe Schwingungsfähigkeit zwischen Herz und ANS. (HRV s.o.)
Vagusparadox
Wie bei Neugeborenen festgestellt, kann der Vagusnerv über den dorsalen Ast für den Menschen eine lebensbedrohliche Situation werden, da das Absinken der Herzfrequenz und die sog. Bradykardie eine Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff nach sich ziehen kann. Gleichzeitig ist der Vagusnerv über den ventralen Vagus ein Marker für Resilienz und Heilung und steuert die Herzratenvariabilität. Diese zeigt an, wie schwingungsfähig ANS und Herzkreislaufsystem aufeinander reagieren. Je flexibler diese Reaktionsfähigkeit ist desto höher die Herzratenvariabilität, desto höher die Resilienz und Gesundheit des Klienten. Heißt, eine Anspannung kann schnell abgebaut bzw. reguliert werden.
Die Polyvagal-Theorie gilt als neuer Bezugsrahmen in der therapeutischen Begleitung
Sie liefert dem Therapeuten eine neuropsychologisch fundierten Bezugsrahmen, in dem sie mit den KlientInnen über die Gründe für das spezifische Handeln von Menschen nachsinnen können. Die polyvagale Perspektive macht uns klar, dass Handlungen automatisch erfolgen, adaptiv zu verstehen sind und vom ANS tief unter dem Radar des Bewusstseins initiiert werden. Nicht das Gehirn trifft die Entscheidungen zum Handeln, sondern autonome Energien bewegen sich in auf Schutz zielenden Mustern. Aufgrund dieses neuartigen Gewahrseins öffnet sich die Tür zum Mitgefühl.
Dieses Wissen um die Polyvagal-Theorie gibt uns ganz neue Möglichkeiten in dem Setting der Therapie: die Voraussetzungen für einen physiologischen Zustand, der die Aktivität des Systems für soziale Verbundenheit (ventralerVagus) unterstützt. „Wenn wir als Therapeuten oder unser KlientIn sich nicht sicher fühlt, befinden wir uns ständig in einem defensiven Zustand. Ein ventral vagaler Zustand lassen Verbundenheit, Neugier und Veränderung entstehen. Ein von der polyvagalen Sicht geprägtes Verständnis therapeutischer Arbeit orientiert sich an den 4R:
-Erkennen (recognize)
–Respektieren der adaptiven überlebenssichernden Reaktion (respect)
–Regulieren oder co-regulieren in einen ventral vagalen Zustand hinein (regulation)
-Neufassung der Geschichte (re-story)
Die Möglichkeit des Klienten, sich selbst und die eigenen Reaktionen einschätzen und verstehen zu lernen, sie auch als eine „normal“ einzuschätzende Reaktion wahrnehmen zu können, erleichtert die Aktivierung von Ressourcen, um auch wieder in eine Selbstregulation hineinzufinden.
Die Wirkung eines Traumas auf unser ANS
Bei einer überwältigenden Situation, in der wir nicht die Ressourcen zur Verfügung haben, um sie zu bewältigen, reagiert unser ANS mit einer Überlebensstrategie. Wie oben beschrieben, aktivieren wir zuerst das SES (social engagement system), wenn das nicht erfolgsversprechend Linderung bringt, gehen wir in den sympathikotonen Zustand, in dem wir entweder Flucht oder Kampf ergreifen und sehr mobilisiert sind. Ist auch diese Strategie nicht hilfreich gehen wir in die Immobilisation, den Totstellreflex. Diese Abfolge wird bei einem Trauma in der Regel durchlaufen und es wird als ein existenzbedrohendes Erlebnis in der Amygdala – dem Mandelkern – im Gehirn abgespeichert.
Die unterschiedlichen Zustände des ANS können folgendermaßen beschrieben werden:
Anzeichen des Zustandes im ventralen Vagus, wenn wir uns sicher fühlen:
. das Gefühl von Sicherheit und/oder Geborgenheit
. Entspannung
. Wärme
. soziale Interaktion und soziale Kompetenz
. kongruentes ehrlich überlegtes Verhalten
. Zugang zu den eigenen Ressourcen, Stärken und Fähigkeiten
. Neugier
. Verbundenheit mit sich selbst und anderen
. Staunen Forschen
Wenn wir eine Bedrohung wahrnehmen, gehen wir in den Zustand der Mobilisierung in den sympathikotonen Zustand:
. sehr fokussiert
. wache bis überwache Wahrnehmung
. Erregung
. erhöhter Blutdruck und Puls
. Freisetzung der „Stresshormone“, z.B. Adrenalin
. Kampf- oder Fluchtbereitschaft
. Bündelung der Kraft
. erhöhter Muskeltonus
Ist diese Strategie von Mobilisierung und Kampf oder Flucht nicht hilfreich, gehen wir in den Zustand der Erstarrung über, in den dorsal – vagalen Zustand:
. Hilflosigkeit
. Kälte
. flacher Atem
. Gedankenkreisen/Zweifeln
. Erschlaffung
. Starre
. Resignation
. Dissoziation
Im Gehirn wird die überwältigende erlebte Situation in der Amygdala abgespeichert. Eine Region des Gehirns, die helfen soll eine schwierige, verletzende oder überwältigende Situation so komplex abzuspeichern, dass bei einer als ähnlich erkannten Situation, das Überlebensreaktionsmuster umgehend
gestartet werden kann.
Sobald ein Erleben sich zeigt, das in irgendeiner Weise oder durch einen ähnlichen Reiz ein Wiedererkennen der bedrohlichen Situation aufzeigt, wird durch unser ANS die oben genannte Überlebensreaktion sofort aktiviert. Dieses Reaktionsmuster ist dann nicht beeinflussbar und läuft ab. Das ist für die Betroffenen ein sehr schwieriger Moment, da sie sich in dem Ablauf gegenüber ihrem eigenen Verhalten hilflos fühlen und es kann so zu Retraumatisierung kommen. Diese Reaktionsachse von Reiz – Amygdala und autonomer Reaktion nennen wir in der Fachsprache auch Feuerwehr. Diese Feuerwehr hat sehr sinnvolle überlebenssichernde Qualitäten, denn da denken wir nicht mehr darüber nach, wie wir reagieren sollen, sondern reagieren.
Dem Betroffenen mit Hilfe der Polyvagal-Theorie näher zu bringen, dass es eine Instanz in jedem Menschen gibt, die in einer bedrohlichen Situation eine Schutzreaktion hervorbringt, die auch nicht mental steuerbar ist, ist erst einmal hilfreich zu verstehen.
Aus dem Ausgeliefert-Sein wird ein Gefühl, etwas in mir hat es geschafft zu überleben.
Dann können wir auch auf die genaue Suche nach den Ressourcen gehen und sie verbalisieren und weiter ausbauen.
Jetzt kommen die oben genannten 4 R zum Tragen:
– Das Erkennen der Situation
– das Respektieren der adaptiven überlebenssichernden Reaktion
– Regulieren oder co-regulieren in einen ventral vagalen Zustand hinein
– Neufassung der Geschichte (re-story).
Nun ist die Möglichkeit gegeben durch Entspannung, Körperarbeit (traumabasiertes Yoga), Vergebung und Selbstvergebung eine neue Grundlage der Verbundenheit zu sich selbst und zu der Umwelt aufzubauen. So kann das Trauma geheilt werden.
Geheilt in dem Sinne, dass es noch eine Erinnerung gibt, jedoch nicht mehr ein durch Reize ausgelöstes wiederkehrendes Überlebensreaktionsmuster.
Selbst-Verständnis und Selbst-Mitgefühl helfen im Zustand des ventralen Vagus zu bleiben und nicht von der eigenen Reaktion überrollt zu werden.
Regulation des ANS
Die Regulation des Nervensystems muss als Kind erlernt werden und bildet sich in seiner Komplexität und der Fähigkeit zur sozialen Interaktion immer weiter aus.
Säuglinge und Kinder erlernen durch Nachahmen der Bezugsperson diese soziale Fähigkeit immer mehr. Die Entwicklung der neuronalen Regulationsfähigkeit des ANS läuft weitestgehend parallel mit der Entwicklung der neuronalen Regelung von Sprechen und Hören und der dazugehörigen Muskulatur.
Die Regulation eines Kleinkindes oder eines Säuglings erfolgt durch meist instinktiv hervorgebrachtes Einstimmen, Einfühlen mit dem Kind. Die Bezugsperson reguliert das ANS des Kindes mit ihrem eigenen Nervensystem. Wiegen, Summen, liebevolles Schauen, sanftes berühren und ruhiges Atmen sind die basalen Stimulationen, die dem Kind helfen, diese Regulation selbst zu erwerben.
Begleiten wir einen Menschen, der traumatisiert wurde, gehen wir als Begleiter in dieselbe vom ventralen Vagus regulierte innere Haltung. Wir geben in dem Setting der Therapie oder Begleitung den sicheren Rahmen, dass das Nervensystem des Klienten sich dem des Therapeuten angleichen kann. Augenringmuskel, Stimmmelodie, Gesichtsausdruck und ruhiger Atem helfen dem Klienten sein Nervensystem runter zu regulieren.
Im Gespräch stimmen wir uns auf den Klienten ein und bilden eine Atmosphäre von Akzeptanz und Verständnis. Dabei ist wichtig, dass wir als ein sicheres Gegenüber für den Klienten einschätzbar sind, heißt, dass wir uns bewusst in dem Modus vom ventralen Vagus halten und so einen sicheren Ort anbieten.
Entscheidend für das Erlernen oder Wiedererlernen der Regulation des Nervensystems ist der somatosensorische Kortex. In diesem Bereich befinden sich die sogenannten Spiegelneurone. Mentale Simulation hilft uns zu erkennen, zu verstehen und auch mitzufühlen, was in unserem Gegenüber vor sich geht. Mit der Insula, die es möglich macht nach innen zu fühlen, kann sich so eine Regulation durch Verstehen und Wiedererlernen zum eigenen selbst etablieren.